Beim Übergang von der Schule in den Beruf greifen viele Faktoren ineinander. Schulen kommt eine wichtige Funktion zu, aber auch die Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen. Worauf kommt es dabei an und wie können die Schulabgänger*innen erfolgreich ausgebildet werden, damit der Fachkräftenachwuchs in den Unternehmen gesichert ist?
Prof. Dr. Marc Thielen hat bereits auf der IGBCE-Fachtagung für das Ausbildungs- und Prüfungspersonal im Nov. 2021 wichtige Akzente zur viel diskutierten Ausbildungsreife und Ausbildungsfähigkeit mit den Teilnehmenden diskutiert. Hier nun das ein aktuelle Interview in der gesamten Länge mit ihm. Die Kurzfassung findet sich im Arqua-Newsletter März 2022.

Ausbildung didaktisch anpassen

Die Ausbildung didaktisch anzupassen ist eine Erwartung an alle Verantwortlichen in der beruflichen Bildung, sagt Prof. Dr. Marc Thielen von der Leibniz Universität Hannover. Mit der IGBCE sprach er über Berufswahl und Berufsorientierung, Ausbildung und Erwartungshaltungen von und an die jungen Schulabgänger*innen. Das Gespräch führte die Journalistin Andrea Pilch im März 2022.

Beim Übergang Schule – Beruf ist oftmals von „mangelnder Ausbildungsreife“ die Rede. Was sagt die aktuelle Forschung dazu?

Die These von der mangelnden Ausbildungsreife ist nicht neu. Bereits seit den 50er- und 60er-Jahren sind entsprechende Klagen der Arbeitgeberseite zu hören. Die Bereiche, in denen die vermeintlichen Defizite zu beklagen seien, haben sich dabei immer wieder geändert.
Besonders augenfällig geschah das im Zusammenhang der Diskussionen um die PISA-Studien: Diese lenkten den Blick vor allem auf Mängel in den schulischen Basiskenntnissen – insbesondere bei den sogenannten „Risikogruppen“, also sozial weniger gut gestellten oder Jugendlichen mit Migrationsgeschichte. In Bezug auf die Ausbildungsfähigkeit wurden unzureichende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben beklagt.

Was bedeutet „mangelnde Ausbildungsreife“?
Das Hauptargument lautet, die Mängel in den für eine Ausbildung notwendigen Kompetenzen seien so gravierend, dass eine berufliche Ausbildung unabhängig vom konkreten Beruf nicht begonnen und erfolgreich abgeschlossen werden könne. Die Arbeitsgeberseite zog daraus vermehrt den Schluss, Jugendliche, die einen Hauptschulabschluss haben, nicht als Auszubildende aufzunehmen.
Längsschnittstudien zeigen hingegen: Auch leistungsschwache Jugendliche können eine Ausbildung gut bewältigen. Entscheidend ist, die Rahmenbedingungen der Ausbildung entsprechend anzupassen. Und damit meine ich nicht: Inhaltlich anpassen, sondern didaktisch. Dann können auch Jugendliche mit ungünstigeren Startbedingungen erfolgreich sein.

Was bedeutet das für das Ausbildungssystem?
Lange Zeit stand den ausbildungswilligen Unternehmen eine große Auswahl an Jugendlichen zur Verfügung. Sie konnten aus dem Vollen schöpfen und sich die Sahnestückchen herauspicken. Das hat sich durch den demografischen Wandel geändert. Die Betriebe müssen sich nun auch für Jugendliche öffnen, die sie bislang nicht ausgebildet haben. Die Herausforderung besteht darin, die Jugendlichen so zu nehmen, wie sie sind – mit ihren Fähigkeiten und mit ihren Defiziten. Wir haben keine anderen!
Die ausbildenden Betriebe und das berufliche Bildungssystem müssen sich an die aktuelle Situation anpassen. Dabei gibt es durchaus Unterstützung. Zum Beispiel durch die „Assistierte Ausbildung“. Konzepte sind da. Sie werden aber bislang noch zu wenig genutzt.

Die Wissenschaft legt derzeit vermehrt den Fokus auf die Berufswahlkompetenz: Was verbirgt sich hinter dieser Entwicklung?
Das, was Ausbildungsreife ausmacht, wandelt sich. Zunächst ging die Diskussion weg vom Richtig-Schreiben-und-Lesen-Können hin zu den sogenannten Soft Skills. Motivation, Pünktlichkeit, Respekt und Zuverlässigkeit wurden und werden inzwischen als wichtiger angesehen als schulische Basiskenntnisse.
Eine „Stilblüte“ dieser Entwicklung sind zum Teil fragwürdige Verhaltens- und Benimmtrainings, die einige Schulen im Kontext der beruflichen Orientierung eingeführt haben. Sie übersehen dabei die Bedeutung von jugendkulturellem Verhalten, das aus Erwachsenensicht fälschlicherweise pauschal als unhöflich oder unpassend betrachtet wird. Jugendliche verhalten sich aber in ihrer Peer-group – z.B. in der Schule – anders als im Kontakt zu Erwachsenen.
Jugendkulturelles Verhalten, das Erwachsene oft stört und bisweilen auch provoziert, ist aber kein Ausbildungsdefizit, denn Jugendliche können den sozialen Kontext durchaus einschätzen und sich entsprechend flexibel verhalten. Aufgabe der Unternehmen ist es, den Jugendlichen die konkreten Gewohnheiten zu vermitteln, die im jeweiligen betrieblichen Kontext und im jeweiligen Berufsfeld gängig sind. Unternehmen sind je nach Branche, Größe, Belegschaft und ggfs. Kunden durchaus unterschiedlich. Es gibt daher keine Standardregeln, die überall gelten. Die Jugendlichen sind in dieser Hinsicht weiter als ihnen häufig unterstellt wird.

Stimmt es, dass die Jugendlichen mit unrealistischen Vorstellungen in die Ausbildung kommen?
Das ist empirisch nicht belegbar. Untersuchungen zeigen, dass sie durchaus konkrete Vorstellungen von ihrem ausgewählten Beruf haben. Jugendliche, die zunächst höhere Schulabschlüsse anstreben, treffen aber ihre Berufswahl zum Teil heute erst später. Wichtig ist zu sehen: Die Jugendlichen sind sehr heterogen. Aufgabe der Unternehmen ist es, damit umzugehen. Auch verändern sich Jugendgenerationen, etwa auch hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Arbeit. Die jeweiligen jungen Menschen in ihrer Lebenssituation zu verstehen, ist eine sehr spannende Aufgabe.
Für Unternehmen bedeutet das, dass ein Konzept von Ausbildung nicht über Jahrzehnte Bestand haben kann. Es will inhaltlich angepasst werden – aber auch didaktisch. Wo bis vor ein paar Jahren vorwiegend Abiturienten in die Ausbildung gekommen sind, finden wir nun zunehmend auch Jugendliche mit Hauptschulabschluss. Der Appell geht an einen veränderten Blick von Betrieben auf Jugendliche: Zeigt Interesse an der jungen Generation! Seht auch ihre Möglichkeiten!

Welche Rolle kommt der schulischen Vorbereitung auf den Beruf zu?
Die Schule muss auf den Übergang in den Beruf vorbereiten. Viele Familien können ihren Kindern gute Einblicke in die Berufswelt geben, aber eben nicht alle. Es ist Aufgabe der Schule, den Jugendlichen diese Einblicke zu ermöglichen; sie müssen eigene Erfahrungen an betrieblichen Lernorten machen. Dazu braucht es Kontakte der Schulen zu Unternehmen der Region, vor allem natürlich zu solchen, die auch ausbilden.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Unternehmen können frühzeitig das Potential sehen, das sich ihnen bietet. Und für die Jugendlichen ist die Kontaktaufnahme einfacher als per Bewerbungsschreiben. Beide Seiten erhalten die Chance, zu sehen, ob „es passt“.

Gutes Stichwort. Was verbirgt sich hinter den oft genannten „Passungsproblemen“?
Diese „Passungsprobleme“ am Ausbildungsmarkt sind branchenspezifisch und regional sehr unterschiedlich. Sie beziehen sich auf Über- oder Unterversorgung. Das größte – man könnte fast sagen: gröbste – Problem dabei ist: Jugendliche werden dadurch bisweilen zu einer Berufswahl gedrängt, die ihnen evtl. gar nicht entspricht. Das ist sehr fragwürdig. Denn drei Jahre Ausbildung, mitunter auch mehr – ist eine sehr lange Zeit für einen jungen Menschen. Es ist nur zu gut nachvollziehbar, dass viele die Ausbildung dann nicht durchhalten oder den Beruf schnell wieder verlassen. Grund ist nicht der Beruf an sich. Grund ist, dass die Entscheidung für den Beruf in erster Linie strategisch getroffen wurde und nicht aus Überzeugung und Interesse entstand.
Hinzu kommt, dass manche Berufe ein schlechtes Image haben und deswegen vielen Jugendlichen uninteressant erscheinen. Eine Studie des BIBB zeigt ganz klar: Das Image des Berufs ist sehr entscheidend für das Interesse, nicht nur die Inhalte. Ein schlechtes haben vor allem Ausbildungen, in denen wir viele Hauptschulabgänger finden. Jugendliche haben Sorgen bei der entsprechenden Berufswahl als ungebildet zu gelten. Ziel der Unternehmen muss es sein, auch die Attraktivität des Berufs zeigen: Dass die Tätigkeit anspruchsvoller ist und mehr Anforderungen stellt als man zunächst denkt und dass es durchaus Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten gibt.

Viele Ausbildungsbetriebe klagen über mangelnde Bewerberzahlen. Als Grund führen sie den verstärkten Studierwillen von Jugendlichen auf. Wie können Unternehmen damit umgehen?
Nicht nur mangende soziale Anerkennung oder schlechte Bezahlung machen einen Beruf unattraktiv. Ganz oben in der Liste stehen schwierige Arbeitsbedingungen, vor allem mit Blick auf die Arbeitszeiten. Hier sind die Unternehmen gefordert. Denn das Jugendalter, und da hinein fällt die Ausbildung in den allermeisten Fällen, ist immens wichtig für die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit. Schränkt eine Ausbildung die Möglichkeiten, sich auch anderen Lebensbereichen zu entwickeln, zu sehr ein, kann das nicht gut sein.
Alleine die Aussicht auf ein Studien-Semester im Ausland kann bereits zur Entscheidung gegen eine berufliche Ausbildendung führen. Doch die Unternehmen haben da durchaus Gestaltungsspielräume. Erste Gedanken und Projekte dazu gibt es bereits. Werden diese ausgebaut, wertet das die Ausbildung im Sinne Jugendlicher auf. Das muss ausdrücklich auch schwächere Jugendliche einbeziehen. Eine duale Ausbildung gekoppelt mit einem Bachelorstudium ist zu einseitig ausgerichtet, da dadurch nur leistungsstarke Jugendliche erreicht werden.

Wie lautet das Fazit zum Übergang Schule – Beruf?
Die Schule muss die Grundsteine für die Entscheidung zur beruflichen Ausbildung legen und Zugänge eröffnen. Dazu braucht es eine gute Vernetzung und Kooperation mit Unternehmen. Diese können in der Schule offensiv und auf kurzem Wege Praktikumsplätze anbieten und ihre potentiellen zukünftigen Mitarbeiter früh kennenlernen.
Aber auch die Berufsschulen sind gefragt. Es ist niemandem geholfen, wenn ein junger Mensch seine Ausbildung abbricht, weil er mit dem schulischen Teil nicht klarkommt. Schafft er die Prüfung nicht, hat das Unternehmen umsonst in seine Ausbildung investiert. Daran kann niemand ein Interesse haben. Natürlich ist das auch eine Frage der Ressourcen in den Schulen; sie brauchen sozial- und ggf. auch sonderpädagogisches Unterstützungsangebot, um den heterogener werdenden Lebenslagen und Lernvoraussetzungen von Jugendlichen gerecht zu werden.
Auch wenn Reformen angestoßen werden: Die jüngere berufliche Bildungspolitik hat mehr die leistungsstarken Jugendlichen im Blick. Die berufliche Ausbildung soll mit einem Bachelorstudium konkurrieren, um für die guten Schülerinnen und Schüler attraktiver zu werden. Dabei darf nicht vergessen werden, auch mehr für die Teilhabe von Leistungsschwächeren zu tun, um ihnen gleichberechtigte Chancen für ihre individuelle und berufliche Entwicklungen zu eröffnen.
All das können Unternehmen aber sicher nicht alleine lösen. Sie müssen dazu die Sozialpartner ins Boot nehmen, ebenso Kammern und Innungen. Gute berufliche Bildung ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft.

… und zur beruflichen Entwicklung?
Die Berufsbilder ändern sich immer schneller; laufend ist weitere Qualifizierung auch nach dem Ausbildungsabschluss nötig. Wir müssen auch hier aufpassen, dass alle Menschen die Gelegenheit haben, mitkommen. Aber auch die Menschen selbst ändern sich in ihre beruflichen Vorstellungen im Laufe des Lebens. Berufsorientierung wird daher heute als ein lebenslanger Prozess verstanden, der nicht mit der Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung endet. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die Entscheidung für einen Beruf immer weniger eine Entscheidung für`s Leben ist.