Gibt es in der hochautomatisierten Produktion der Chemie- und Pharmaindustrie Risiken bei Nicht-Routine-Situationen? Diese Frage mit dem Schwerpunkt Pharmakant*in und Chemikant*in war im Frühjahr 2020 Thema einer Untersuchung. Dabei wurde klar, dass es in der Aus- und Weiterbildung hierzu Bedarf gibt.

Interview (ausführliche Fassung)

Dr. Stephanie Conein arbeitet als Wissenschaftlerin im Bundesinstitut für Berufsbildung. Ihr Arbeitsbereich konzentriert sich auf die Elektro-, IT-, verkehrstechnischen und naturwissenschaftlichen Berufe.

Wenn der „Autopilot“ ausfällt

Automatisierung und Digitalisierung haben vieles in der Arbeitswelt erleichtert. Was aber machen wir, wenn die Automatik ausfällt oder etwas nicht nach Plan läuft? Wir – oft schlagartig – die Routinen verlassen müssen? Dr. Stephanie Conein vom BIBB hat mit ihrem Kollegen Thomas Felkl solche Situationen für die Berufe Chemikant*in und Pharmakant*in unter die Lupe genommen.

Zunehmend bestimmen hoch-automatisierte Abläufe den Arbeitsalltag. Das erleichtert in vielerlei Hinsicht die Arbeit. Aber birgt diese starke Tendenz zur Automatisierung nicht auch Gefahren?

Auf jeden Fall. Denn wenn ich etwas zwar erlernt habe, aber aufgrund der Automatisierung lange nicht anwende, ist es schwer, diese Fähigkeit im Störfall abzurufen. In anderen Bereichen werden diese sogenannten Nicht-Routinen regelmäßig trainiert: beim Militär, in Medizin und Luftfahrt oder bei der Polizei. Auch bei Untersuchungen zu den Veränderungen, die Industrie 4.0 mit sich bringt, wurde der Aspekt Nicht-Routinen betrachtet. Für die Chemische Industrie hingegen gab es bislang kaum Forschung zu dem Thema.

Gefahren durch Routinen lauern aber auch in der Chemischen Industrie?

Das war in der Tat unsere erste Frage: Gibt es solche Situationen hier überhaupt? Wenn ja: Wie sind sie einzuordnen und wer hat Erfahrungen damit? Unsere Untersuchungen begannen wir im Frühjahr 2020 – fast zeitgleich mit der Corona-Pandemie. Das bedeutete leider viele Einschränkungen, denn wir konnten, anders als geplant, keine Beobachtungen in den Betrieben anstellen. Die bisherigen Ergebnisse stützen sich deshalb auf telefonische Interviews. Sie weisen aber klar in die Richtung, dass Automatisierung auch in der Chemischen Industrie Risiken birgt.

Besteht in den Betrieben ein Bewusstsein für diese Risiken?

Ja, durchaus. Man ist sich der Problematik, die von Nicht-Routine-Situationen ausgeht, sehr wohl bewusst. Geeignete Maßnahmen, was in solchen Fällen zu tun ist, finden wir zum Beispiel in den Schichthandbüchern aufgeschrieben. Eine besonders wichtige Quelle ist auch die Erfahrung der älteren Mitarbeiter/innen. Mit ihrem Ausscheiden verschwindet in den Unternehmen daher jedesmal auch wertvolles Know-How.

Was bedeutet das für Ausbildung und Qualifizierung?

Anders als zum Beispiel bei der Feuerwehr oder im Luftverkehr sind regelmäßige Auffrischungsübungen, um notwendige Fähigkeiten schnell abrufen zu können, in der Prozess-Chemie schwer umsetzbar. Hier ist eine gut strukturierte Aus- und Weiterbildung die beste Grundlage, um mit Nicht-Routinen adäquat umgehen zu können. Die Basis sollte ein fundiertes Wissen um den Produktionsprozess sein. Zusätzlich angebracht wären kleine Auffrischungen z.B. durch die Nutzung von Virtual Reality, um das erlernte Wissen und Können lebendig zu halten.